4 Mayo — God help us
In der Mitte Irlands, in Athlone, zweieinhalb Schnellzugstunden hinter Dublin, wird der Zug zu zwei Hälften auseinandergekoppelt, die bessere Hälfte, die den Speisewagen behält, geht nach Galway weiter, die benachteiligte Hälfte, in der wir bleiben, geht nach Westport. Wir würden den Speisewagen, in dem gerade das zweite Frühstück serviert wird, mit noch schmerzlicheren Gefühlen scheiden sehen, wenn wir Geld hätten, englisches, irisches, um ein Frühstück oder einen Lunch zu bezahlen. So aber — da uns zwischen Ankunft des Schiffes und Abfahrt des Zuges nur eine halbe Stunde blieb und die Wechselstuben in Dublin erst um halb zehn öffnen — haben wir nur die leichten, doch hier nutzlosen Scheine, wie sie aus der Notenpresse der Bank deutscher Länder kommen: Fuggers Gesicht hat keinen Kurs in Mittelirland.
Noch habe ich den Schrecken, der mich in Dublin überfiel, nicht ganz vergessen: Als ich auf der Suche nach einer Wechselmöglichkeit den Bahnhof verließ, wäre ich fast von einem knallroten Auto überfahren worden, dessen einziger Schmuck ein prägnantes Hakenkreuz war. Hat jemand Lieferwagen des ›Völkischen Beobachters‹ hierhin verkauft, oder hat der ›Völkische Beobachter‹ hier noch eine Niederlage? Genauso sahen die Autos aus, die ich noch in Erinnerung hatte; aber der Fahrer des Autos bekreuzigte sich, als er mich freundlich aufforderte weiterzugehen, und beim näheren Zusehen klärte sich alles auf. Es war nur die Swastika Laundry, die ihr Gründungsjahr, 1912, deutlich sichtbar unter dem Hakenkreuz aufgemalt hatte; doch die bloße Möglichkeit, es hätte eines jener Autos sein können, genügte, mir den Atem zu nehmen.
Ich fand keine Bank offen, kehrte entmutigt zum Bahnhof zurück, schon entschlossen, den Zug nach Westport fahrenzulassen, denn ich konnte die Fahrkarten nicht bezahlen. Es blieb uns die Wahl, ein Hotelzimmer zu nehmen, auf den nächsten Tag, den nächsten Zug zu warten (denn der Nachmittagszug würde keinen Anschluß mehr an unseren Bus haben) oder auf irgendeine Weise ohne Fahrkarten in den Zug nach Westport zu kommen; diese irgendeine Weise fand sich: Wir fuhren auf Kredit; der Bahnhofsvorsteher in Dublin, gerührt von dem Anblick dreier übernächtigter Kinder, zweier verzagter Frauen und eines ratlosen Vaters (vor zwei Minuten erst dem Hakenkreuzauto entkommen!), rechnete mir vor, daß die Hotelnacht soviel kosten würde wie die ganze Eisenbahnfahrt nach Westport: Er notierte meinen Namen, die Anzahl der auf Kredit beförderten Personen, drückte mir tröstend die Hand und gab dem Zug das Abfahrtszeichen.
So gelangten wir auf dieser merkwürdigen Insel in den Genuß dieser einzigen Art eine Kredits, den wir noch nie bekommen und zu bekommen versucht hatten: den Kredit einer Eisenbahngesellschaft.
Doch leider gab es im Speisewagen kein Frühstück auf Kredit; der Versuch, es zu bekommen, scheiterte: Fuggers Physiognomie, wenn auch auf tadellosem Banknotenpapier, überzeugte den Oberkellner nicht. Wir wechselten seufzend das letzte Pfund, ließen uns die Thermosflasche voll Tee und einen Packen belegter Brote geben. Den Schaffnern aber blieb die harte Pflicht, merkwürdige Namen in ihre Notizbücher zu schreiben. Es geschah einmal, zweimal, dreimal, und es entstand für uns die bange Frage: Werden wir einmal, zweimal oder dreimal diese einzigartigen Schulden bezahlen müssen?
Der neue Schaffner, der in Athlone zustieg, war rothaarig, eifrig und jung; als ich ihm gestand, keine Fahrkarten zu haben, ging ein Leuchten des Erkennens über sein Gesicht. Offenbar waren wir ihm avisiert, offenbar wurden unsere Namen und unser Kredit sowie die Anzahl der auf Kredit beförderten Personen von Station zu Station durchtelegrafiert.
Vier Stunden lang noch hinter Athlone schlängelte sich der Zug, der jetzt zum Personenzug geworden war, zu immer kleineren, immer westlicheren Stationen durch. Die Glanzpunkte seines Haltens waren die Städte, die noch zwischen Athlone (9000 Einwohner) und der Küste liegen: Roscommon und Claremorris mit soviel Einwohnern, wie drei städtische Mietskasernen sie haben, Castlebar, die Hauptstadt der Provinz Mayo, mit viertausend und Westport mit dreitausend Einwohnern; auf einer Strecke, die etwa der Entfernung Köln-Frankfurt entspricht, nimmt die Bevölkerungsdichte immer mehr ab, dann kommt das große Wasser und dahinter New York mit dreimal soviel Einwohnern wie der ganze Freistaat Irland, mit mehr Iren, als in den drei Provinzen hinter Athlone leben.
Klein sind die Stationen, hellgrün die Bahnhofsgebäude, schneeweiß die Umzäunungen gestrichen, und auf dem Bahnsteig steht meistens ein einsamer Junge, der sich aus Mutters Tablett und einem Lederriemen einen Bauchladen gemacht hat: drei Tafeln Schokolade, zwei Äpfel, ein paar Rollen Pfefferminz, Kaugummi und ein Comic; einem dieser Knaben wollten wir unseren letzten silbernen Schilling anvertrauen, doch die Wahl war schwierig. Die Frauen plädierten für Äpfel und Pfefferminz, die Kinder für Kaugummi und Comic. Wir schlossen einen Kompromiß und kauften das Comic und eine Tafel Schokolade. Das Heft hatte den vielversprechenden Titel ›Bat Man‹, und auf dem Titel sah man einen dunkel maskierten Mann an Hausfassaden hochklettern.
Einsam auf dem kleinen Bahnhof im Moor blieb der lächelnde Junge zurück. Der Stechginster blühte, die Fuchsienhecken hatten schon Knospen; wilde grüne Hügel, Torfhaufen; ja, grün ist Irland, sehr grün, aber sein Grün ist nicht nur das Grün der Wiesen, auch das Grün des Mooses, gewiß hier, hinter Roscommon, auf Mayo zu, und Moos ist die Pflanze der Resignation, der Verlassenheit. Verlassen ist das Land, es entvölkert sich langsam, aber stetig, und uns — keiner von uns hatte diesen Streifen Irland je gesehen, je das Haus besichtigt, das wir irgendwo im Westen gemietet hatten — , uns wurde ein wenig bang: vergebens suchten die Frauen links und rechts der Eisenbahn nach Kartoffeläckern, Gemüsefeldern, nach dem frischen, weniger resignierten Grün des Salats, dem dunkleren der Erbse. Wir teilten den Riegel Schokolade und versuchten, uns mit ›Bat Man‹ zu trösten, aber der war wirklich zu bad. Er kletterte nicht nur, wie er auf dem Titelblatt versprochen hatte, an Hausfassaden hoch; offenbar war es eines seiner Hauptvergnügen, Frauen im Schlaf zu erschrecken; auch konnte er, indem er seinen Mantel ausbreitete, durch die Lüfte davonfliegen, Millionären Dollars abnehmen, und seine Taten waren in einem Englisch beschrieben, das nicht auf kontinentalen Schulen und nicht auf den Schulen Englands und Irlands gelehrt wird; stark war ›Bat Man‹ und schrecklich gerecht, aber hart, und er konnte gegen Ungerechte sogar grausam sein, schlug er doch auch gelegentlich jemandem die Zähne ein, welcher Vorgang in schöner Lautmalerei mit Skrietsch überschrieben war. Keinen Trost bot ›Bat Man‹.
Blieb uns ein anderer Trost: Unser rothaariger Schaffner erschien und notierte uns lächelnd zum fünftenmal. Dieser geheimnisvolle Vorgang des häufigen Notierens ließ sich erklären. Wir hatten wieder eine Provinzgrenze überschritten und waren im County Mayo angelangt. Nun haben die Iren eine merkwürdige Gewohnheit; wenn der Name der Provinz Mayo genannt wird (es sei lobend, tadelnd oder unverbindlich), sobald nur das Wort Mayo fällt, fügen die Iren hinzu: »God help us!« Es klingt wie die Antwort in einer Litanei: »Herr, erbarme dich unser!«
Der Schaffner entschwand mit der feierlichen Versicherung, daß er uns nicht noch einmal würde notieren müssen, und wir hielten auf einem kleinen Bahnhof. Auch hier wurde ausgeladen, was an allen anderen Bahnhöfen ausgeladen worden war: Zigaretten, nichts sonst. Schon hatten wir uns angewöhnt, an der Größe der ausgeladenen Zigarettenballen die Größe des Hinterlandes abzuschätzen, und wie ein Blick auf die Karte bewies, stimmte unsere Kalkulation. Ich ging durch den Zug in den Packwagen, um nachzusehen, wieviel Zigarettenpakete dort noch lagerten. Ein kleinerer und ein großer Ballen lagen noch dort, und so wußte ich, wieviel Bahnhöfe noch zu passieren waren. Der Zug war beängstigend leer geworden. Achtzehn Personen zählte ich, wir allein waren sechs davon, und es schien uns, als führen wir schon eine Ewigkeit durch Torfhalden, Moor, und noch immer nicht war das frische Grün des Salats zu sehen, nicht das dunklere der Erbse oder das bittere der Kartoffel. Mayo, flüsterten wir leise. God help us!
Wir hielten, der große Ballen Zigaretten wurde ausgeladen, und über das schneeweiße Gitter des Bahnsteiges blickten dunkle Gesichter, beschattet von Schlägerkappen, Männer, die eine Autokolonne zu bewachen schienen; auch an anderen Bahnhöfen waren mir solche aufgefallen, Autos und die lauernden Männer; jetzt erst erinnerte ich mich, wie oft ich sie vorher schon gesehen hatte. Sie kamen mir vertraut vor, wie die Zigarettenpakete, wie unser Schaffner und die kleinen irischen
Güterwagen, die nur wenig mehr als halb so groß sind wie die englischen und kontinentalen. Ich ging in den Packwagen, wo unser rothaariger Freund auf dem letzten Zigarettenballen hockte; vorsichtig die englischen Vokabeln benutzend, so wie Anfänger im Jonglieren mit Porzellantellern umgehen mögen, fragte ich ihn, welche Bedeutung diesen dunklen Männern mit den Schlägerkappen zukomme, welches der Zweck ihrer Autos sei; ich erwartete irgend etwas Folkloristisches: ins Moderne übertragene Entführung, Raubüberfall, aber die Antwort des Schaffners war verblüffend einfach:
»Das sind Taxis«, sagte er, und ich atmete erleichtert auf. Taxis gibt es also auf jeden Fall, so sicher, wie es Zigaretten gibt. Der Schaffner schien meinen Schmerz erkannt zu haben: er bot mir eine Zigarette an, ich nahm sie gerne, er gab mir Feuer und sagte vergeißungsvoll lächelnd: »In zehn Minuten werden wir am Ziel sein.«
Pünktlich laut Fahrplan waren wir zehn Minuten später in Westport. Hier wurde uns ein feierlicher Empfang zuteil. Der Bahnhofsvorsteher persönlich, ein großer und würdiger alter Herr, postierte sich freundlich lächelnd vor unser Zugabteil und hob zur Begrüßung einen großen, ziselierten Messingstab, das Zeichen seiner Würde, an die Mütze. Er half den Damen, half den Kindern, winkte einen Träger herbei, drängelte mich zielsicher, aber unauffällig in sein Büro, notierte meinen Namen, meine irische Adresse und riet mir väterlich, mich nicht der Hoffnung hinzugeben, daß ich in Westport mein Geld gewechselt bekäme. Er lächelte noch milder, als ich ihm meine Fuggerporträts zeigte, sagte: »A nice man, a very nice man«, indem er auf Fugger deutete, und beschwichtigte mich:
»Es hat ja Zeit«, sagte er, »es hat wirklich Zeit, Sie werden schon zahlen. Beunruhigen Sie sich nicht.«
Noch einmal nannte ich ihm den Wechselkurs, aber der würdige alte Mann wiegte nur leise seinen Messingstab hin und her und sagte: »Ich würde mir keine Sorgen machen.« (I shouldn’t worry). (Wobei uns die Plakate geradezu auffordern, sich Sorgen zu machen. Denken Sie an Ihre Zukunft. Sicherheit über alles! Sichern Sie Ihre Kinder!)
Aber noch machte ich mir Sorgen. Bis hierher hatte der Kredit gereicht, aber würde er weiter reichen, für zwei Stunden Aufenthalt in Westport, für zweieinhalb Stunden Omnibusfahrt bis zum Ziel, durch Mayo — God help us?
Ich konnte den Bankdirektor noch aus seiner Wohnung herausklingeln; er zog die Augenbrauen hoch, denn es war sein freier Nachmittag; ich konnte ihn auch — und seine Augenbrauen senkten sich — von der relativen Schwierigkeit meiner Situation überzeugen: einiges Geld, und doch keinen Pfennig in der Tasche! Aber von der Kreditwürdigkeit meiner Fuggersammlung konnte ich ihn nicht überzeugen. Er hatte wohl irgend etwas von Ost- und West-Mark gehört, von dieser Währungsdifferenz, und als ich, rechts unterhalb Fugger, Frankfurt zeigte, sagte er - er muß in Geographie eine Eins gehabt haben — : »Es gibt auch ein Frankfurt in der anderen Hälfte Deutschlands«; da blieb mir nur noch übrig — was ich nicht gerne tat — , den Main gegen die Oder auszuspielen, aber er hatte offenbar in Geographie nicht Summa cum lande gehabt, und solche feineren Unterschiede waren ihm, auch angesichts des amtlichen Wechselkurses, eine zu schmale Basis für einen größeren Kredit.
»Ich muß das Geld nach Dublin schicken«, sagte er. »Das Geld«, sagte ich, »so wie es ist?« »Natürlich«, sagte er, »was soll ich denn hier damit?«
Ich senkte das Haupt: Er hatte recht, was sollte er damit?
»Wie lange wird es dauern«, sagte ich, »bis Sie aus Dublin Bescheid haben?«
»Vier Tage«, sagte er.
»Vier Tage«, sagte ich, »God help us!«
Das wenigstens hatte ich gelernt. Ob er mir dann auf dieses Päckchen hin einen Kredit gewähren könne, einen kleinen? Er blickte nachdenklich auf Fugger, auf Frankfurt, auf mich, öffnete die Kassenschublade und gab mir zwei Pfundnoten.
Ich schwieg, unterschrieb eine Quittung, bekam eine von ihm und verließ die Bank. Natürlich regnete es, und mein people erwartete mich hoffnungsvoll an der Bushaltestelle. Hunger sprach aus den Blicken, die fast schon schmachtend waren, die Erwartung starker männlicher, starker väterlicher Hilfe, und ich entschloß mich, zu tun, worauf sich der Mythos der Männlichkeit gründet, ich entschloß mich, zu schwindeln. Ich lud alle mit großer Geste zum Tee ein, zu Schinken und Eiern, Salat — wo kam er bloß her? — , zu Keks und Eiskrem und war glücklich, nach bezahlter Zeche noch eine halbe Krone übrig zu haben. Das langte gerade noch für zehn Zigaretten, Zündhölzer und einen silbernen Schilling Reserve.
Noch wußte ich nicht, was ich vier Stunden später wußte: daß man auch Trinkgelder auf Kredit geben kann, und als wir erst am Ziel waren, am Rande von Mayo, fast am Achill Head, von wo es bis New York nur noch Wasser gibt — da trat der Kredit erst in rechte Blüte, schneeweiß war das Haus gestrichen, marineblau die Fensterrahmen, im Kamin brannte das Feuer. Es gab als Begrüßungsmahl frischen Lachs. Hellgrün war die See, vorne, wo sie auf den Strand rollte, dunkelblau zur Mitte der Bai hin, und ein schmaler, sehr weißer Saum war zu sehen dort, wo sie sich am Clare Island brach.
Am Abend noch bekamen wir, was soviel wert war wie bares Geld, das Anschreibebuch des Shopbesitzers. Es war dick, fast achtzig Seiten stark, sehr solide in rotes Leder gebunden, es schien auf Dauer angelegt. Wir waren am Ziel, in Mayo — God help us?